Sep

2014

Rainer Schwierczinski: Das Jahrhunderthochwasser 1954 in Bayern

Vor genau 60 Jahren, ein Jahr nach dem ersten großen Auslandseinsatz des THW bei der Sturmflut in den Niederlanden, wurde das THW im Juli 1954 durch eine gewaltige Hochwasserkatastrophe in Bayern erneut und zu dem bis dahin größten Inlandseinsatz gefordert. Der nachfolgende Beitrag erinnert an das damalige Geschehen und den engagierten Einsatz von rund 3000 Helfern der damals noch im Aufbau befindlichen Bundesanstalt Technisches Hilfswerk aus dem gesamten Bundesgebiet.

Die Überschwemmungskatastrophe

Anfang Juli 1954 brach über das Alpenland, besonders über das bayerische Voralpengebiet, eine Überschwemmungs-katastrophe herein, wie man sie dort seit nahezu 400 Jahren nicht erlebt hatte.

Der Schadensbilanz von Hochwasserereignissen des Bayerischen Landesamtes für Umwelt ist zu entnehmen, dass das extreme Hochwasser am 7. Juli begann und vier Tage andauerte. Es war gekennzeichnet von 70 – 90 Stunden Niederschlag ohne größere Pausen, nachdem die Böden bereits durch eine Regenperiode ab dem 27. Juni gesättigt waren. Da die nördlichen und südlichen Donauzuflüsse zur selben Zeit Hochwasser führten, entstand aus der Summe beider dieses extreme Sommerhochwasser.

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Insgesamt wurden dabei ca. 150.000 ha Land überschwemmt, davon allein 57.888 ha in Niederbayern, 51.286 ha in Oberbayern und 38.535 ha in der Oberpfalz. Die Überschwemmungen forderten insgesamt 12 Todesopfer und über 9.000 Menschen mussten evakuiert werden. Insgesamt verursachte die Hochwasserkatastrophe wirtschaftliche Schäden von fast 120 Mio. DM (ca. 60 Mio. €). Besonders in der Landwirtschaft (ca. 38 Mio. DM), an Straßen, Brücken etc. (12 Mio. DM), in Industrie und Gewerbe (ca. 10 Mio. DM) und an Gebäuden und baulichen Anlagen (9 Mio. DM) entstanden enorme Schäden.   

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Weniger amtlich nüchtern sondern teilweise bewegend und eindrucksvoll wird das Katastrophengeschehen und insbesondere der THW-Einsatz in damaligen Publikationen geschildert, die auch die wesentliche Informationsquelle dieses Beitrags sind.

Das THW im Katastropheneinsatz

Umfassend wird das Katastrophengeschehen und der Hochwassereinsatz des THW von Dr. Otto Meibes in einem zweiteiligen Bericht in der Monatszeitschrift des THW, Ausgaben August und September 1954 und dem 1954 erschienenen zweiten Band der THW-Schriftenreihe unter der Überschrift “THW hilft Bayern” beschrieben und mit Fotos dokumentiert.

Fast 50 Stunden lang rauschte der Regen auf erntereife Felder, auf Weideland, auf Höfe, Dörfer und Sommerfrisch-Paradiese. Über die Berggipfel fegten Schneestürme mit einer Stundengeschwindigkeit von über 100 km. Das Vieh auf den hochgelegenen Weiden wurde eingeschneit. Alpenbäche schwollen binnen weniger Stunden zu wilden Strömen an, die auf ihrem Weg zu Tal Baumstämme, Geröll und Wurzelwerk mit sich fortrissen, Brücken zerstörten und sich tief in das Erdreich einfraßen. In den Niederungen traten die Zuflüsse zur Donau, die Paar, die Isar, der Inn, die Salzach und die Donau selbst unter dem Anprall der Hochwasserwelle über ihre Ufer und überschwemmten weithin das Land.

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Die Verkehrsverbindungen waren auf lange Strecken unterbrochen. Jäh sahen sich Hof- und Dorfbewohner durch die Fluten von der Außenwelt abgeschnitten. Ganze Dörfer und Stadtteile, besonders in Deggendorf und Passau, mussten geräumt, an verschiedenen Orten musste der öffentliche Notstand ausgerufen werden. Mehr als 1600 qkm Fläche wurden überschwemmt. Die Höhe des Gesamtschadens an Hab und Gut, Haus und Hof und Ernte erreichte fast 200 Millionen DM. Schon gleich nach dem Einsetzen der ersten großen Regenfälle waren einige bayerische Ortsverbände des THW, teils aus eigener Initiative, teils von den örtlichen Behörden angefordert, der Bevölkerung zur Hilfe geeilt.

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Bei der sich stündlich verschärfenden Katastrophenlage reichten jedoch örtliche Hilfsmaßnahmen nicht mehr aus. Es kam daher darauf an, alle verfügbaren Hilfskräfte zu einem Großeinsatz zu organisieren. Zu diesem Zweck wurde beim Bayerischen Staatsministerium des Innern eine Oberste Einsatzleitung gebildet, der sämtliche Hilfsorganisationen unterstellt wurden. Feuerwehren, Polizei, Bundesgrenzschutz, Deutsches Rotes Kreuz und amerikanische Pioniere arbeiteten nach einem einheitlichen Plan zusammen, Seite an Seite mit den freiwilligen Helfern des Technischen Hilfswerks.

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Inzwischen hatten die Katastrophenschäden ein Ausmaß angenommen, das den Bundesminister des Innern veranlasste, der Bayerischen Regierung die Hilfe des gesamten Bundesgrenzschutzes und des THW anzubieten. Daraufhin löste die Hauptsteile des THW in Koblenz zentrale Hilfeleistungen aus. In der Nacht vom 9. auf 10. Juli wurden sämtliche entbehrlichen motorisierten Bereitschaftszüge aus Hamburg und Niedersachsen, aus Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, aus Hessen und Baden-Württemberg sowie von der Bundesschule Marienthai des THW nach Bayern in Marsch gesetzt. Sie waren mit allem erforderlichen Gerät zur Katastrophenbekämpfung ausgerüstet und führten auf Spezialanhängern Floßsackfähren, Schlauchboote und Notstromaggregate mit sich. Auch der gesamte Nachschub an Arbeits- und Regenkleidung, Wasserstiefeln und verschiedenem Spezialgerät sowie Zehntausende der so dringend zum Abdichten der Deiche benötigten Sandsäcke wurde von der Hauptsteile des THW aus durchgeführt. Mit diesen Maßnahmen bewies das THW, dass es organisatorisch und aus rüstungsmäßig für Katastrophenfälle, auch großen Ausmaßes, jederzeit einsatzbereit ist. Es hat sich aber auch gezeigt, dass das THW sich im Ernstfall auf seine Helfer verlassen kann. Sie standen in allen Ortsverbänden des Bundesgebietes bereit. Jeder einzelne der in Bayern eingesetzten Helfer tat seine Pflicht mit einem Opfermut, der das eigene Leben nicht schonte.

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Ende Juli kehrten die letzten Einsatzgruppen des THW aus dem bayerischen Katastrophengebiet zurück. Sie haben, wo es nur immer mit Menschenhilfe möglich war, Unheil abwehren oder größeren Schaden verhüten können. Eingesetzt waren insgesamt über 3000 THW-Helfer aus 24 Ortsverbänden, die rund 95000 Arbeitsstunden ableisteten. Sie retteten Hunderte von Menschen aus abgeschnittenen oder überfluteten Häusern; sie halfen bei der Evakuierung von Menschen aus Höfen, Dörfern und ganzen Stadtteilen. Allein aus Passau brachten sie über 2000 Einwohner in Sicherheit. Aus den von den Fluten bedrohten Gehöften bargen sie Vieh und Sachgüter. Ihre größte Bewährungsprobe bestanden die THW-Helfer jedoch an den Flussdeichen, wo sie allein an einer Einsatzstelle durch unermüdliche Abdämmungsarbeiten 16 Dörfer vor Überschwemmung retteten und Acker- und Weideland vor weiterer Oberflutung bewahrten. Dankschreiben des Bundesministers des Innern, des Bayerischen Staatsministers des Innern, von Regierungspräsidenten, von Landräten und von den örtlichen Behörden zeugen van dem Dank, den die Bevölkerung der betroffenen Gebiete den Helfern des THW entgegenbrachte.

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Die Reaktion der Bundesregierung

In der Sitzung des Bundeskabinetts am 13 Juli 1954 unter Leitung von Bundeskanzler Adenauer berichtet der Bundesminister für besondere Aufgaben, Dr. Strauß, unter dem Tagesordnungspunkt „Hochwasserkatastrophe“ eingehend über seine Eindrücke anlässlich seiner Reise in das Katastrophengebiet. Er hebt hervor, dass sich die hervorragend ausgestatteten amerikanischen Truppen in vorbildlicher Weise eingesetzt hätten.  Auch der Einsatz des technischen Hilfswerks habe sich außerordentlich bewährt….

Scann0094Durch den beispiellosen Einsatz der Amerikaner sei es gelungen, den Verlust von Menschenleben auf das geringste Ausmaß zu beschränken. Der Umfang der Schäden sei zur Zeit noch nicht zu übersehen, auf jeden Fall sehr groß.

Auf Vorschlag des Bundeskanzlers beschließt das Kabinett einen Ausschuss aus mehreren Kabinettmitgliedern zur Beratung der erforderlichen Hilfsmaßnahmen einzusetzen, eine Dankadresse an die amerikanischen Besatzungstruppen und eine erste Hilfe von 5 Millionen DM an die bayerische Landesregierung zur Abwendung der dringendsten Not.

In der Gewalt der Natur

lautet die Überschrift über die Berichterstattung von diesem Schadensereignis im Bulletin der Bundesregierung vom 15. Juli 1954. Neben der Veröffentlichung der Zahlen der Einsatzkräfte ist zu lesen, dass Bundesregierung und Bundestag neben der bayerischen Regierung alle zur Verfügung stehenden Kräfte und Organisationen mobilisiert haben, um die Rettungsaktionen einzuleiten, mit denen Hunderte von Menschen vor dem Untergang in den Fluten bewahrt werden konnten. Auch sei eine breite Welle der Solidarität eingetreten. Das holländische Rote Kreuz Hollands hat umgehend eine Paketsammlung für die Opfer in Bayern und Österreich begonnen und ist mit größeren Sendungen von Hilfsmittel unmittelbar helfend im Katastrophengebiet tätig geworden. Neben dem Deutschen Caritas-Verband hat der französische Caritas-Verband eine Hilfsaktion eingeleitet. Die Schweiz hat den Rot Kreuz Gesellschaften in Deutschland und Österreich ihre Hilfe für die Opfer der Überschwemmungen angeboten. Auch der Papst hat seine Hilfskommission angewiesen, sich für die Hochwasseropfer einzusetzen. Dazu kam Hilfe von Kanada und aus England.

Nach einem Bericht des bayerischen Ministerpräsidenten Ehard arbeiteten im Katastrophengebiet 9000 Soldaten der amerikanischen Besatzungsmacht, darunter 2000 Spezialkräfte. Aus dem ganzen Bundesgebiet sind Spezialeinheiten herangezogen worden, ferner 41 Hubschrauber, 150 Sturmboote, 40 Amphibienfahrzeuge und zahlreiche Schlauchboote.

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Von deutscher Seite sind 2600 Mann der Landespolizei, 2000 Beamte der Bereitschaftspolizei und 2800 Angehörige des Bundesgrenzschutzes ferner 2400 Helfer des technischen Hilfswerks mit mehreren Einsatzwagen aus verschiedenen Großstädten eingetroffen. Als besonders wertvoll bezeichnete der bayerische Ministerpräsident die Hilfe der US Streitkräfte. Sie hätten ebenso wie die Deutschen Einheiten diese Hilfe nahezu bis zum Umfallen geleistet. Allein mit Hubschraubern und Sturmbooten hätten sie mehr als 550 Menschen das Leben gerettet.

Der für das regierungsamtliche Mitteilungsblatt ungewöhnlich anteilnehmende, einfühlsame und nachdenkliche Beitrag zur Hochwasserkatastrophe endet mit den folgenden Sätzen:

Die Folgen der Flutkatastrophe werden neben der sonst noch zu bewältigenden Not besondere Überlegungen und Entschlüsse notwendig machen. Sie belasten die wirtschaftliche Volkskraft um ein erhebliches. Dieses große Unglück sollte dazu mahnen, Selbstsicherheit, Besitzsucht und Besitzfreude nicht zu überschätzen und dessen eingedenk zu sein, dass sie sehr relative Werte sind. Immer wieder stehen wir vor der Tatsache, dass unvorhergesehene Erschütterungen unser Dasein bedrohen. Sie sollten unser soziales Gewissen wach halten und den Willen, stets bereit zu sein, wo die Not des Daseins ihre Zeichen steckt.

(Anm.: 1954 hatte der Bundeshaushalt ein Volumen von rund 27 Milliarden DM. Die Schadenssumme des Hochwassers 1954 mit 120 Millionen DM entsprach damit 0,44 Prozent des damaligen Bundeshaushaltes. Würde man diesen Anteil auf den heutigen Bundeshaushalt 2014 übertragen, entspräche er einer Summe von rund 1,3 Milliarden Euro).

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Dank für hervorragenden Einsatz

Der Bundesminister des Innern, Dr. Schröder, hat dem Direktor der Bundesanstalt Technisches Hilfswerk in einem Schreiben für den Einsatz bei der Unwetterkatastrophe in Bayern Dank und Anerkennung ausgesprochen. Das Schreiben des Bundesinnenministers hat folgenden Wortlaut:

Das Technische Hilfswerk hat sich bei der Unwetterkatastrophe in Oberbayern vorbildlich eingesetzt. In kameradschaftlicher Zusammenarbeit mit den übrigen Hilfsorganisationen haben sich die Angehörigen des Technischen Hilfswerks große Verdienste bei der Beseitigung der Hochwasserschäden und bei der Versorgung der Bevölkerung erworben und durch ihre schnelle Hilfe sowie unermüdliche Arbeit größere Opfer und Schäden im Katastrophengebiet verhüten können. Die Anerkennung der Leistungen des Technischen Hilfswerks durch hohe Behördenvertreter, die Presse und besonders durch die betroffene Bevölkerung selbst, habe ich mit Genugtuung zur Kenntnis genommen, weil sie mir den guten Geist und die hervorragende Einsatzbereitschaft der Männer des Technischen Hilfswerks bezeugt. Das Technische Hilfswerk hat seine Pflicht erfüllt. Es ist mir ein Bedürfnis, allen beteiligten Angehörigen für die zum Wohle der Bevölkerung und im Dienste des Staates geleistete Arbeit meinen Dank und volle Anerkennung auszusprechen.

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Direktor Lummitsch vor Ort im Katastrophengebiet

 

Quellen:

Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, hrsg. für das Bundesarchiv, Band 7, 1954, 39. Kabinettsitzung am 13. Juli 1954,                                                                                                                                                                   Bulletin der Bundesregierung Nr. 129/S. 1159 vom 15. Juli 1954,                                                                               

Das Technische Hilfswerk, Monatszeitschrift des THW, Nr.1 und 2 – August und September 1954 – l. Jahrgang, THW-Schriftenreihe, Heft 2, “THW hilft Bayern” 1954,   

Wir helfen, Das THW gestern – heute – morgen, hrsg. Im Auftrag der Bundesanstalt Technisches Hilfswerk von Gernot Wittling, 1. Auflage September 2000                                                        

 

Der Artikel wurde erstmals in der THW Zeitung NRW / Ausgabe 2/2014 veröffentlicht.